Eigentlich war seit ein paar Tagen ein Beitrag zu diesem Artikel bei SPIEGEL ONLINE überfällig: Reine Kopfsache
Muss jeder Radfahrer einen Helm tragen? Seit Jahren streiten Experten über die gesetzliche Helmpflicht. Eine neue Studie belegt: Sie könnte insgesamt eher schädlich für die Gesundheit sein.
Wohlgemerkt: Holger Dambeck schreibt über die Helmpflicht, nicht über den Fahrradhelm als einzelne Schutzmaßnahme, über deren Schutzwirkung man allerdings auch nicht gerade einer Meinung ist; siehe dazu diesen Aufsatz von Dr. Ingo Keck und den von Dr. Adolf Müller. Gegenstand von Dambecks Artikels ist eine kanadische Studie, die offenbar ganz überraschend feststellte, dass eine Fahrradhelmpflicht keineswegs die Anzahl der in Krankenhäusern behandelten Kopfverletzungen verringert. Und während Dambeck gleich im ersten Absatz seines Textes aus den hochemotionalen Debatten zu diesem Thema warnt, wächst ebenjene Debatte in den Kommentaren heran.
Dort fallen auch unsachlichste Argumente auf fruchtbaren Boden. Der immerblöde Vorschlag, fahrlässige Radfahrer sollten ihre Krankenhausrechnung aus eigener Tasche bezahlen, weil Fahrradfahren gefährlich wäre, wird gekontert mit Rauchern, Fettleibigen und Extremsportlern, die sich meistens im vollen Bewusstsein gefährlichen Tätigkeiten aussetzen und sich trotzdem auf Kosten der Allgemeinheit reparieren lassen dürfen. Die Helmpflicht für Fußgänger, Hausfrauen und Kraftfahrer wird ebenso diskutiert wie tausende Bekannte, die jemanden kennen, der schon mal nach einem Unfall fünfzig Meter durch die Luft geflogen und direkt auf dem harten Kantstein gelandet ist und ohne Helm tot wäre aber dank des Helmes quicklebendig und unverletzt aufgestanden ist.
So richtige Erkenntnisse sind in so einem Thread also nicht zu erwarten.
Für weitere Diskussionen ist schon gesorgt: Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht lastete einer verunfallten Radfahrerin zwanzig Prozent ihres entstandenen Schadens an, weil sie keinen Fahrradhelm trug (Az. 7 U 11/12). Die Radfahrerin kollidierte mit einer plötzlich geöffneten Autotür und lag anschließend zwei Monate lang mit einer Schädel-Hirn-Verletzung im Krankenhaus. Die Urteilsbegründung liegt momentan noch nicht vor, für Gesprächsstoff sorgt derweil die Pressemitteilung: Fahrradunfall ohne Helm – Mitverschulden an der Kopfverletzung?
Das Gericht erkennt eine Mitschuld am entstandenen Schaden, weil die Geschädigte keinen Helm getragen und damit Schutzmaßnahmen zu ihrer eigenen Sicherheit unterlassen habe, wobei es sich implizit auf § 254 BGB beziehen dürfte. Das Eigenverschulden der Geschädigten wird mit zwanzig Prozent bemessen: Einerseits habe ein Fahrradhelm den Schaden nur verringern, aber nicht verhindern können, andererseits überwiege das grob fahrlässige Öffnen der Autotür ganz erheblich.
Der 7. Zivilsenat erkennt zwar an, dass es in Deutschland momentan noch keine Pflicht zum Tragen eines Fahrradhelmes gibt, begründet sein Urteil allerdings einigermaßen abenteuerlich:
Fahrradfahrer sind heutzutage jedoch im täglichen Straßenverkehr einem besonderen Verletzungsrisiko ausgesetzt. Der gegenwärtige Straßenverkehr ist besonders dicht, wobei motorisierte Fahrzeuge dominieren und Radfahrer von Kraftfahrern oftmals nur als störende Hindernisse im frei fließenden Verkehr empfunden werden.
Das spielt vermutlich ein wenig auf den so genannten Krieg auf der Straße an. Erstaunlich ist an dieser Stelle, dass die Schleswiger Richter den Radverkehr in einer Art Opferrolle sehen und sich nicht zu Bundesverkehrsminister Ramsauer Beobachtungen der verrohenden Sitten der Radfahrer gesellen mögen. Dieser Absatz hätte auch ganz anders lauten können, beispielsweise hätten die Richter auf ihrem Weg zur Arbeit erkennen können, dass für Radfahrer offenbar Narrenfreiheit, aber keine Straßenverkehrs-Ordnung gelte und sie sich auf diese Weise nicht nur einem besonderen, sondern einem ganz erheblichen Verletzungsrisiko aussetzen.
Allerdings irren die Richter nur ein paar Sätze weiter:
Aufgrund der Fallhöhe, der fehlenden Möglichkeit, sich abzustützen (die Hände stützen sich auf den Lenker, der keinen Halt bietet) und ihrer höheren Geschwindigkeit, z.B. gegenüber Fußgängern, sind Radfahrer besonders gefährdet, Kopfverletzungen zu erleiden. Gerade dagegen soll der Helm schützen. Dass der Helm diesen Schutz auch bewirkt, entspricht der einmütigen Einschätzung der Sicherheitsexperten und wird auch nicht ernsthaft angezweifelt.
Die Schutzwirkung eines Fahrradhelmes wird durchaus angezweifelt, beispielsweise unter dem oben verlinkten Aufsatz. Nun ist die Radfahrerin bei diesem Unfall offensichtlich auf den Hinterkopf gestürzt, so dass ein Fahrradhelm womöglich tatsächlich eine gewisse Schutzwirkung gezeigt haben könnte. Viele andere Unfälle gehen trotz Fahrradhelm mit einer ungewissen Schutzwirkung einher, wenn der Radfahrer mit dem Kinn zuerst oder seitlich aufschlägt. Überhaupt steht bezüglich der Schutzwirkung eines Fahrradhelmes nur soviel fest, dass sie von viel zu vielen Faktoren abhängig ist, als dass sich ebenjene Schutzwirkung nicht ernsthaft anzweifeln ließe.
Die Anschaffung eines Schutzhelms ist darüber hinaus wirtschaftlich zumutbar. Daher kann nach dem heutigen Erkenntnisstand grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass ein verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens beim Radfahren einen Helm tragen wird, soweit er sich in den öffentlichen Straßenverkehr mit dem dargestellten besonderen Verletzungsrisiko begibt.
Zuerst einmal: Man muss diesem Absatz nicht zustimmen. Und den übrigen Absätzen sowieso nicht und dem Urteil schon gar nicht. Hier wird wohl die Brücke geschlagen zu § 254 BGB, wobei die Richter interpretieren, dass der Fahrradhelm ein anerkanntes und generell übliches Schutzwerkzeug zur Vermeidung von Kopfverletzungen wäre. Das Gerangel um die Anerkennung des Helmes umgeht das Gericht mit den Sicherheitsexperten, die dessen Schutzwirkung nicht ernsthaft anzweifeln. Es ist allerdings fraglich, ob angesichts einer Tragequote von fünf bis zehn Prozent von einem allgemeinen Schutzwerkzeug ausgegangen werden kann — das ist allerdings durchaus elementar, denn ansonsten wird’s ganz blöde: Die Schutzwirkung eines Integralhelms beim Fensterputzen wird sicherlich auch kein Experte in Abrede stellen, aber der Integralhelm ist so unüblich, dass kein Richter den zwei Stockwerke tiefer zerschellten Fensterputzer auf diesen Helm hinweisen wird.
Überhaupt hält sich dieser Bestandteil von § 254 BGB die ganzen lustigen Vergleiche vom Leibe, warum denn Fußgänger, Kraftfahrer, Hausfrauen und Lampen-auf-dem-Drehstuhl-Wechsler keinen Helm tragen müssen: Weil es eben unüblich ist. Und im Gegensatz zu weiter entwickelten Fahrradnationen wie Dänemark oder den Niederlanden kommt man in Deutschland nicht umhin festzustellen, dass der Fahrradhelm für Radfahrer wissenschaftlich zwar umstritten sein mag, aber gesellschaftlich und medial mehr als anerkannt wird. Diesen Umstand würdigen die Richter offenbar durchaus in ihrer Begründung, zumindest liest sich die Pressemitteilung zwischen den Zeilen so; weiter oben wurde bereits auf das reichlich vergiftete Klima im deutschen Straßenverkehr hingewiesen, wodurch entsprechende Vergleiche auf unsere beiden velophilen Nachbarländer unterbunden werden: In den Niederlanden und in Dänemark mögen Helme unüblich sein, weil das Fahrrad dort einen ganz anderen Stellenwert genießt und Kraftfahrer vermutlich beim Öffnen einer Tür hinreichend aufpassen, niemanden vom Ross zu stoßen.
Die von der Empörung über dieses Urteil befeuerten Vergleiche, die momentan unter anderem in den einschlägigen sozialen Netzwerken die Runde machen, scheinen allerdings nicht unbedingt zielführend. Der Helm beim Skifahren ist inzwischen ebenso übliche wie die zwar nicht vorgeschriebene, aber nach einem Unfall ähnlich wie der fehlende Helm berücksichtigte Schutzkleidung beim Motorradfahren. Wer beim Indoor-Klettern ohne Schutzausrüstung von der Wand plumpst wird sich ähnliches vorhalten lassen müssen und ganz fernab vom Thema wird die Gefährlichkeit eines Kraftfahrzeuges in vielen Unfallsituationen pauschal mit mindestens 25 Prozent versteuert; da heißt es dann auch: Hätte er nicht das Auto genommen, wäre das nicht vorgekommen — sogar dann, wenn der Kraftfahrer an dem Unfall komplett unschuldig war abgesehen davon, dass er mit seinem Kraftfahrzeug ein potenziell gefährliches Gerät in den Straßenverkehr eingeführt hat.
Womöglich, genaueres wird man ja erst mit der Veröffentlichung der kompletten Urteilsbegründung wissen, hat sich das Oberlandesgericht von der Feststellung führen lassen, dass im deutschen Straßenverkehr der Helm als anerkannte Schutzmaßnahme gilt, die nur von einigen renitenten Radfahrern in Zweifel gezogen wird. Das klingt sicherlich für unsereins erstmal unverständlich, entspricht aber insofern der Auslegung der einschlägigen Gesetze. Der Knackpunkt dürfte drum ebenjene Feststellung darstellen, nach der dieser Unfall mit behelmten Kopf einen anderen, nicht so schlimmen Verlauf genommen hätte. Dabei berücksichtigen die Richter momentan schon die nicht ganz eindeutige Schutzwirkung des Helmes, was immerhin eine höhere Mitschuld der Radfahrerin verhinderte, doch trotzdem macht es sich das Gericht an dieser Stelle zu leicht.
Insofern bleibt natürlich ein fader Beigeschmack, gerade weil das Radfahren in ebenjenen Nachbarländern auch ohne Helm funktioniert. Die Einführung einer Helmpflicht durch die Hintertür stellt dieses Urteil allerdings noch lange nicht dar: Andere Gerichte, auch andere Oberlandesgerichte, sind nicht an die Entscheidung des Schleswiger Zivilsenates gebunden. Die Rechtsprechung zeigt sich bezüglich des Fahrradhelm-Themas erstaunlich pluralistisch, was durchaus zu begrüßen ist, da diese unterschiedlichen Entscheidungen deutlich machen, dass auch bei unbequemen Urteilen jeweils eine Würdigung des Einzelfalles gegeben ist.
Das Landgericht München II sieht beispielsweise bei einem Alltagsradler, der sein Fahrrad nicht zur sportlichen Ertüchtigung nutzt, kein Mitverschulden bei einem Unfall, wenn kein Helm getragen wurde (Az.: 5 O 1837/09). Das Landgericht Koblenz meint, auch ein Rennradfahrer, der sich mit moderater Geschwindigkeit innerhalb der Straßenverkehrs-Ordnung bewegt, brauche sich nach einem Unfall den fehlenden Helm nicht anrechnen zu lassen (Az.: 5 O 349/09). Das Oberlandesgericht Brandenburg befindet, ein Radfahrer, der über ein Schlagloch stürzt, dürfe trotz des fehlenden Helmes seine Ansprüche geltend machen (Az.: 2 U 34/08). Das Oberlandesgericht Saarbrücken sieht einen Radfahrer erst bei einer sehr sportlichen und dementsprechend riskanten Fahrweise zu einem Fahrradhelm verpflichtet und verneint diese Pflicht gegenüber einer Alltagsradlerin (Az.: 4 U 80/07). Und das Oberlandesgericht Düsseldorf sieht aufgrund der fehlenden Überzeugung einer Schutzwirkung ebenfalls keine Helmpflicht für einen Alltagsradler als gegeben an (Az.: I-1 U 278/06); das Oberlandesgericht Hamm teilt diese Meinung in einem anderen älteren Urteil (Az.: 27 U 93/00). Hingegen sieht das OLG München durchaus ein Mitverschulden, wenn ein unbehelmter Rennradfahrer auf einem Feldweg mit einem Personenkraftwagen kollidiert (Az.: 24 U 384/10), das Oberlandesgericht Düsseldorf stellt sogar die Betriebsgefahr des gegnerischen Kraftfahrzeuges hinter dem fehlenden Fahrradhelm zurück (Az.: I-1 U 182/06).
Alle diese Urteile beziehen sich an mehreren Stellen an § 254 BGB — insofern wird auch künftig richtungsweisend sein, inwiefern sich der Fahrradhelm in Deutschland für Alltags- oder Rennradfahrer als Schutzwerkzeug durchsetzt. Die Gefahr einer Helmpflicht durch die Hintertür scheint bis dahin allerdings noch nicht gegeben.
Interessant wäre allerdings auch zu wissen, ob den Richtern die physische Präsenz eines Fahrradhelmes genügt oder ob denn künftig Berücksichtigung finden wird, ob der Helm ordnungsgemäß getragen wird — ein Großteil der behelmten Radfahrer bummelt sich die Schale irgendwie so auf den Kopf, dass eine Schutzwirkung zumindest unwahrscheinlich scheint.
Siehe auch:
- Helmlose tragen Mitschuld
Auch wenn es keine Helmpflicht gibt: Wer oben ohne unterwegs ist und bei einem Unfall am Kopf verletzt wird, kann nicht mit vollem Schadensersatz rechnen.
- OLG Schleswig: Ohne Fahrradhelm Mitverschulden an unfallbedingter Kopferverletzung
Kollidiert ein Radfahrer im öffentlichen Straßenverkehr mit einem anderen sich verkehrswidrig verhaltenden Verkehrsteilnehmer und erleidet er infolge des unfallbedingten Sturzes Kopfverletzungen, die ein Fahrradhelm verhindert oder gemindert hätte, muss er sich grundsätzlich ein Mitverschulden wegen Nichttragens eines Fahrradhelms anrechnen lassen. Dies hat – trotz Fehlens einer allgemeinen Helmpflicht für Radfahrer – das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht entschieden. Im konkreten Fall ging es von einem Mitverschuldensanteil von 20% aus (Urteil vom 05.06.2013, Az.: 7 U 11/12).
- Urteil: Mitschuld bei Unfall ohne Fahrradhelm
Eine generelle Helmpflicht für Radfahrer gibt es zwar nicht – aber bei einem Sturz tragen Radler automatisch eine Mitschuld an möglichen Kopfverletzungen, wenn ein Helm diese verhindert oder gemindert hätte. Das hat das Oberlandesgericht Schleswig in einem Urteil vom 5. Juni (Aktenzeichen 7 U 11/12) entschieden, wie am Montag bekannt wurde. Dies gilt demnach sogar dann, wenn sich der Unfallgegner verkehrswidrig verhalten hat.
- Fahrradfahrerin ohne Helm trägt Mitschuld an Unfall
Radfahrern steht es frei, ob sie einen Helm tragen oder nicht. Aus Sicht der Richter des schleswig-holsteinischen Oberlandesgerichts müssen sie die Konsequenzen für ihr Verhalten jedoch selbst tragen. Eine Frau muss deshalb nach einem Unfall Krankenhausaufenthalt und Reha teilweise selbst zahlen.