Wer nicht auf dem benutzungspflichtigen Radweg fährt, ist mitschuldig, wenn etwas passiert — das war 1993, Jahre vor Aufhebung der generellen Radwegbenutzungspflicht, durchaus üblich an deutschen Gerichten. Nun sorgt ein neues Urteil für Aufregung: Lieber Straße als Radweg — Radler hat bei Unfall Mitschuld
Ein Radfahrer, der statt eines ausgeschilderten Radweges eine parallel verlaufende Straße benutzt, haftet nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt grundsätzlich mit. Nach Auffassung des Gerichts müssen Radfahrer einen eigens ausgeschilderten Radweg auch benutzen. Wer trotzdem auf der Straße fahre, tue dies letztlich auf eigenes Risiko.
Der Artikel von n-tv ist so umfassend nicht: Es wird nicht einmal auf das Urteil verlinkt. Obwohl in der Überschrift das Wort „Mitschuld“ auftaucht und im Text wenigstens darauf hingedeutet wird, geht die Interpretation in der Fahrradwelt eher in Richtung eines Skandalurteiles — durchaus zurecht, obschon die Rechtslage komplizierter ist.
Der Sachverhalt ist relativ einfach: das Unfallopfer fuhr mit dem Rad auf der Fahrbahn neben einem parallel verlaufenden und als benutzungspflichtig gekennzeichneten Radweg. Auf einer Ölspur kam der Radfahrer ins Schleudern, stürzte und verklagte den Verursacher der Verschmutzung auf Schadensersatz. Das Frankfurter Oberlandesgericht attestierte dem Radfahrer im Urteil hingegen eine Mitschuld von knapp fünfzig Prozent (Urteil vom 28. Oktober 2011, Az.: 24 U 134/11) — das ist, angesichts der Tatsache, dass der Verursacher in der Regel nicht gefunden wird, eigentlich immer noch ein erfreuliches Ergebnis. Motorradfahrer, die unter derartigen Verschmutzungen häufiger zu leiden haben, wären sicherlich froh, wenn der Verursacher überhaupt bekannt wäre.
Der Knackpunkt hingegen ist die Begründung, laut der die ordnungswidrige Nutzung der Fahrbahn an dieser Stelle zur Haftungsminderung des Ursachers geführt habe. Das Gericht sieht in der Radwegbenutzungspflicht eine Schutzfunktion des Radfahrers, die in unter anderem vor derartigen Unfällen schützen solle. Da er sich freiwillig auf die offenbar gefährlichere Fahrbahn begeben habe, müsse er mit den entsprechenden Konsequenzen zurechtkommen.
Diese Sichtweise bietet natürlich schon breite Angriffsfläche aufgrund der durchaus komplexen Materie. Im Urteil werden sogar munter die Begriffe „Fahrbahn“ und „Straße“ durcheinandergeworfen, was ja wenigstens leichte Zweifel an der Kompetenz des Gerichtes aufkommen lässt. Nun hat der Gesetzgeber damals das Instrument der Radwegbenutzungspflicht eingerichtet, um durch die Entmischung der Verkehrsarten die schwächeren Radfahrer zu schützen. Das ist, wie in allzu vielen Städten zu sehen ist, nicht unbedingt geglückt. Es ist aber unwahrscheinlich, dass der Gesetzgeber auch den Schutz vor Ölspuren und ähnlichen Hinterlassenschaften der Kraftfahrzeuge im Sinn hatte. Ansonsten müsste sich jener Schutzzweck auch auf vereiste Fahrbahnen oder Glasscherben erstrecken, die aber auf Radwegen wenigstens ebenso häufig drohen.
Auch eine Ölspur kann sich problemlos auf einem Radweg breitmachen, etwa wenn sich ein Kraftfahrzeug beim misslungenen Radwegparken die Ölwanne aufreißt oder an einer der häufigen Überlappungen der beiden Verkehrsarten in Form von Kreuzungen und Einmündungen. Wenn dort ebenfalls relativ regelmäßig Unfallmöglichkeiten herumliegen, kann der Schutzzweck der Radwegbenutzungspflicht kaum der Schutz vor den gleichen Unfallarten auf der Fahrbahn gewesen sein. Das Urteil folgt an dieser Stelle allerdings der schlanken Überlegung, es gäbe auf Radwegen keine Kraftfahrzeuge und damit keine Ölspuren, ganz ungeachtet der Tatsache, dass der Radweg relativ häufig vom Kraftfahrzeugverkehr gekreuzt wird. An einem innerörtlichen Radweg dürfte gut ein Viertel der Strecke von Autos benutzt werden. Das Argument der Unfallgefahren auf dem Radweg begegnet das Gericht, indem es feststellt, dass der Radfahrer den benutzungspflichten Radweg vor einem Scherbenhaufen zwar verlassen darf, aber gleich die folgende Auffahrmöglichkeit wahrnehmen muss, um sich nicht in die dauerhafte Gefahrensituation auf der Fahrbahn zu begeben, vor der die Radwegbenutzungspflicht schützen soll.
Etwas verquer wirkt vor diesem Hintergrund auch die Tatsache, dass der Gesetzgeber im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte vor nunmehr fünfzehn Jahren die allgemeine Radwegbenutzungspflicht aus der Straßenverkehrs-Ordnung gestrichen hat. Soll ein Radweg aber vor allerlei Ungemach, also auch für Ölspuren auf der Fahrbahn schützen, so müssten Radfahrer auch weiterhin verpflichtet sein, alles zu beradeln, was auch nur entfernt an einen Radweg erinnert. Oder korrespondiert die Wahrscheinlichkeit für Ölspuren in irgendeiner Weise mit der Gegenwart von benutzungspflichtigen Radwegen? Wären die Ansprüche des Radfahrers nicht zur Hälfte abgewiesen worden, wenn jemand die blauen Schilder beiseite geklagt hätte?
Insofern reiht sich das Oberlandesgericht Frankfurt mit seinem Urteil in die lange Reihe der etwas verqueren Urteile ein. Es ist hingegen unwahrscheinlich, dass das Unfallopfer auf aufgrund einer anderen Urteilsbegründung einen höheren Schadensersatz hätte erstreiten können.